Ernst Wilhelm Nay (* 11. Juni 1902 in Berlin; † 8. April 1968 in Köln) war ein deutscher Maler und Grafiker der klassischen Moderne. Er gilt als einer der bedeutendsten Maler der deutschen Nachkriegskunst.
Nay entstammte einer Berliner Beamtenfamilie.[1] Er wurde als zweiter Sohn von sechs Kindern geboren. Sein Vater Johannes Nay fiel 1914 als Hauptmann in Belgien. Seine humanistische Schulausbildung schloss Nay 1921 mit dem Abitur an der Landesschule Pforta in Thüringen ab. Aus dieser Zeit stammen die ersten Malversuche und es wächst sein Interesse an Kunst.[2] Im selben Jahr begann Nay eine Buchhandelslehre in der Berliner Buchhandlung Gsellius, die er nach einem Jahr wieder abbrach. Danach schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch und begann Selbstbildnisse und Landschaften zu malen.[3]
Mit drei seiner autodidaktisch gemalten Bilder („Bildnis meiner Mutter“, 1924, WV 3, „Bildnis Ruth“, 1924, WV 4, und „Bildnis Franz Reuter“, 1925, WV 6) stellte er sich 1924 bei Karl Hofer (1878–1955) an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin vor.[4] In seinen „Regesten zu Leben und Werk“, aufgezeichnet 1958, erinnert sich Nay: „Mit diesen drei Bildern fuhr ich eines Sonntags zu Hofer und zeigte sie ihm. Er war von dem Bildnis des jungen Mannes sehr begeistert und bestimmte, ich solle es auf die Akademie-Ausstellung am Pariserplatz geben, die Frühjahrausstellung. Die war damals die beste moderne Ausstellung in Berlin.“[5] Hofer erkannte Nays Begabung, vermittelte ihm ein Stipendium und nahm ihn in seine Malklasse auf. An der Hochschule lernte Nay seine spätere Frau Helene (Elly) Kirchner (1901–1986) kennen, die dort als Modell tätig war.[6] Er beendete sein Studium im Jahr 1928 als Meisterschüler Hofers. Im selben Jahr macht Nay eine erste Studienreise nach Paris.
1930 vermittelte der Kunsthistoriker Carl Georg Heise (1890–1979) Nay ein Stipendium für einen Aufenthalt auf der dänischen Insel Bornholm, wo er die sogenannten „Strandbilder“ schuf.[7] Ein Jahr später erhielt er durch die Preußische Akademie der Künste ein Stipendium für einen neunmonatigen Aufenthalt an der Deutschen Akademie (Villa Massimo) in Rom, wo kleinformatige, surrealistisch-abstrakte Bilder entstanden.[8] 1932 heiratete Nay Elly Kirchner. Im folgenden Jahr beteiligte er sich an der Ausstellung „Lebendige deutsche Kunst“ in den Galerien Alfred Flechtheim und Paul Cassirer. In einem Hetzartikel der Nationalsozialisten im „Völkischen Beobachter“ vom 25. Februar 1933 wurde sein Bild „Liebespaar“ (1930, WV 86) als „Meisterwerk der Gemeinheit“ verhöhnt.[9] Bei Sommeraufenthalten 1935 und 1936 an der Ostsee in Vietzkerstrand (Pommern) entstanden großformatige Rohrfederzeichnungen, die sogenannten „Fischerzeichnungen“ und später im Atelier die sogenannten „Dünen- und Fischerbilder“.[10] Im Jahr 1937 wurden zwei seiner Ölgemälde („Fischerboote an der Hafenmole“, 1930, WV 81 und „Fischerdorf Tejn auf Bornholm“, 1930, WV 83) in der Ausstellung „Entartete Kunst“ gezeigt.[11] Durch die Vermittlung von C. G. Heise erhält Nay eine finanzielle Unterstützung von dem Maler Edward Munch (1863–1944), was ihm eine Reise auf die norwegischen Lofoten ermöglichte, wo er großformatige Aquarelle malte.[12] Nach den Motiven dieser Aquarelle entstanden später, im Berliner Atelier, die sogenannten „Lofoten-Bilder“ (1937–1938).[10]
Ende 1939 erreichte Nay der Einberufungsbefehl.[13] Zunächst gelangte er als Infanterist nach Südfrankreich, dann in die Bretagne. 1942 wurde er als Kartenzeichner nach Le Mans versetzt.[14] Dort erfährt Nay eine weitere Ambivalenz seiner Lebenssituation. Er, der im eigenen Lande als „entarteter“ Maler verfemt ist, erlebt hier im besetzten Frankreich wohltuende Hilfsbereitschaft, Freundschaft und unerwartete Wertschätzung seiner Malerei durch französische Intellektuelle.[15] Hier lernte er auch den Amateurbildhauer Pierre de Thérouanne kennen, der ihm sein Atelier zur Verfügung stellte und sogar Malmaterial besorgte.[16] In diesen Jahren entstanden einige kleinere Ölbilder und vor allem Arbeiten auf Papier: „Der Krieg kam, schließlich zog ich ein erträgliches Los, wurde Kartenzeichner in einem Stab. Obergefreiter. Ich habs nie weiter gebracht, ich war allzu unmilitärisch. Ich konnte sogar zuweilen malen in Frankreich. Es entstanden Aquarelle, Gouachen und später auch Bilder. Es kamen glückhafte Malereien zutage, fern aller Tages- und Kriegsfragen und doch nicht idyllisch.“[17] Bereits im Mai 1945 wurde Nay nach kurzer Gefangenschaft von den Amerikanern entlassen.[18] Weil seine Berliner Wohnung, die ihm zugleich als Atelier diente, bei einem Bombenangriff 1943 zerstört worden war, zog er nach Hofheim am Taunus und konnte dort, durch Vermittlung der Sammlerin und Kunsthändlerin Hanna Bekker vom Rath (1893–1983), ein kleines Atelierhaus beziehen.[19]
Hier schuf Nay von 1945 bis 1949 die sogenannten „Hekatebilder“, denen ab 1949–1951 die „Fugalen Bilder“ folgten. Bereits 1946 war er Elisabeth Kerschbaumer, der Assistentin seines Galeristen Günther Franke in München begegnet, die er 1949 nach einvernehmlicher Scheidung von seiner ersten Frau Elly heiratete.[20] 1950 fand eine erste Retrospektive des Künstlers in der Kestner-Gesellschaft in Hannover statt. Ein Jahr später übersiedelte er nach Köln, das bis zu seinem Tod 1968 sein Lebensmittelpunkt blieb. Im Jahr 1953 zeichnete er einen abstrakten Film („Eine Melodie, Vier Maler“, Regie: Herbert Seggelke) zusammen mit Jean Cocteau, Gino Severini und Hans Erni. In dieser Zeit entstanden auch die „Rhythmischen Bilder“ (1952–1953).
In den wohl bekanntesten Bildern des Künstlers, den sogenannten „Scheibenbildern“ (1954–1962), wurde die Kreisform der Scheibe in allen Abwandlungen zum dominierenden Motiv. Das prominenteste Beispiel dafür ist das 1956 entstandene „Freiburger Bild“ (2,55 × 6,55 m), das Nay als Wandbild für das Chemische Institut der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg malte.[21] In einem Brief an Werner Haftmann vom 13. August 1960 schrieb Nay: „Das ‚Freiburger Bild‘ ist das Bild nach der Zeit der Struktur als Zeichnung, nach der Zeit der Struktur als Materie, nach der Zeit der Struktur der Monochromie, dieser Urstufe der Struktur als Farbe. Das ist eben meine Kunst, meine Malerei, meine Sache […]“[22]
1955 veröffentlichte Nay seine manifestartige Schrift „Vom Gestaltwert der Farbe“.[23] In dieser Zeit fand sein Schaffen bald auch internationale Resonanz: 1955 wurde die erste Einzelausstellung in den USA gezeigt, ein Jahr später präsentierte Nay seine „Scheibenbilder“ als Einzelausstellung im deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig. Er nahm an den drei ersten documenta-Ausstellungen documenta I (1955), II (1959) und III (1964) in Kassel teil. Im Jahr 1960 publizierte der deutsche Kunsthistoriker Werner Haftmann (1912–1999) die erste umfassende Nay-Monographie, die in engem Kontakt zum Künstler entstanden war.[24] Zwischen 1963 und 1964 entwickelte Nay die sogenannten „Augenbilder“. Aus dieser Werkphase stammen auch die auf Anregung des damaligen documenta-Direktors Arnold Bode (1900–1977) gemalten, 4 × 4 m messenden sogenannten „documenta-Bilder“, die während der documenta III unter der Decke hängend präsentiert wurden (diese drei Bilder sind heute als Dauerleihgabe im Bundeskanzleramt in Berlin).[25] Ab 1965 entstehen die „Späten Bilder“ Nays, an denen der Künstler bis zum Ende seines Lebens arbeitet. 1968 vollendete Nay die Entwürfe für das „Keramische Wandbild“ im Kernforschungszentrum Karlsruhe, das allerdings erst posthum realisiert wurde.[26] Anfang April entstand das letzte Gemälde „Weiß-Schwarz-Gelb“ (WV 1303).[27] Kurz darauf starb Nay 65-jährig in seinem Kölner Haus an Herzversagen. Er wurde auf dem Melaten-Friedhof von Köln (Flur 43) beigesetzt.
Die folgenden Ausführungen basieren hauptsächlich auf den Einführungstexten zu den verschiedenen Werkphasen von Elisabeth Nay-Scheibler im Werkverzeichnis der Ölbilder.[28]
Die frühen Bilder Nays zeigen autodidaktisch gemalte Landschaften und Porträts seiner engeren Umgebung, in denen noch Einflüsse von Henri Matisse (1869–1954) und seines Lehrers Karl Hofer erkennbar sind.[29] Einen besonderen Platz nimmt das Gemälde „Bildnis Franz Reuter“ (WV 6) von 1925 ein, „das Bild, an dem Nay bewusst wurde, ein Maler zu sein.“[30] Bereits zu dieser Zeit fällt auf, dass Nay nicht an naturalistischer oder psychologischer Beschreibung interessiert ist, sondern das eigentlich Malerische sucht. Seine Anlage zur Abstraktion wird bereits an den Details der Bilder sichtbar. Während seines neunmonatigen Aufenthalts in Rom 1931/32, hat Nay kaum Augen für die „klassische“ Kunst dieser Stadt, sondern beginnt auf sich gestellt an eigenartig surrealen, kleinformatigen Stillleben mit Larven, Muscheln oder Würmern zu arbeiten („Große Muschel mit Männern“, 1932, WV 110; „Fliehende Würmer“, 1932, WV 128). In seinen „Regesten zu Leben und Werk“ erinnerte er sich an diese Zeit: „[…] 1931/32 war ich an der Deutschen Akademie in Rom, ärgerlich, weil ich in der Schulzeit vollgestopft worden war mit den Relikten der humanistischen Bildung […]. Ich malte surreale formale Bilder, wohl aber doch eigene und im ganzen Verlauf meiner Kunst durchaus einzubauende Bilder.“[31]
Mit seinen mythischen Tierbildern, die um 1934 entstehen und den „Dünen- und Fischerbildern“ vorangehen („Weißer Stier“, 1934, WV 148; „Mandrill“, 1934, WV 153), sucht Nay einen neuen Weg der Bildgestaltung. Durch schwarze Linien verfremdete Tierformen werden oft von einfachen Symbolformen begleitet, wie etwa dem Kreis als Sonnen- und Mondzeichen. Angeregt durch Sommeraufenthalte an der Ostsee, wo er ein einfaches Leben mit den Fischern führt, erkennt Nay im ständigen Auf und Ab des Wellengangs eine Urform der Dynamik („Dünenlandschaft“, 1935, WV 175). Schon in prähistorischer Zeit gilt die Wellen- oder Schlangenlinie mit ihren abwechselnd nach oben und unten schwingenden Bögen als Zeichen der ewigen Bewegung von Tod und Wiedergeburt. Ganz unspekulativ – aus der reinen Anschauung – überträgt Nay diesen Formenduktus der Bewegung auf Dünen- und nächtliche Meerbilder („Nächtliches Meer“, 1935, WV 182). In zahlreichen großformatigen Rohrfederzeichnungen, die die Ein- und Ausfahrten der Boote und die Tätigkeit der Fischer in freie Linienkunst übersetzen, bereitet Nay seine sogenannten „Dünen- und Fischerbilder“ vor. Auch diese zeigen eine starke Dynamik, die in der Bewegung der Dünung, aber auch in den kontrastierenden Vertikalen der Bootsmasten und Segel zum Ausdruck kommt („Ostseefischer I“, 1935, WV 189). Die Figuren der Fischer sind stark abstrahiert; ihre kugel- oder dreiecksförmigen Köpfe zeigen jeweils in der Mitte nur ein einzelnes punktförmiges Auge.
Mit Beginn der Herrschaft der Nationalsozialisten verschlechterte sich Nays Lebenssituation erheblich. Seine Bilder wurden als „entartet“ diffamiert und er erhielt Ausstellungsverbot. Auch Arbeitsmaterialien (Leinwände, Farben etc.) durfte er nicht mehr kaufen. Zu den materiellen Sorgen dieser Jahre kamen die seelischen Belastungen hinzu, die vor allem aus den unterbundenen Kontaktmöglichkeiten resultierten. Aus dieser bedrückenden Situation half C. G. Heise, indem er Nay zwei Aufenthalte auf den norwegischen Lofoten vermittelte, die für Nays künstlerische Entwicklung große Bedeutung hatten: „Die bizarren Formationen der Berge und Fjorde, das glasklare Licht, die schattenlos leuchtenden Farben des hohen Nordens und die urtümliche Welt der Fischer und Walfänger verfehlten nicht ihre Wirkung auf Nay. Er fand sich hier einer Natur gegenüber, die weitgehend seiner eigenen entsprach. Mit diesem Erlebnis brach seine Anlage zur Farbe ganz auf […].“[32] Auffällig ist vor allem die im Vergleich zu den vorangegangenen Werken der „Lofoten-Bilder“ veränderte Farbigkeit. Nay wählt expressive Farben und setzt z. B. anstelle von Wolken starkfarbige Flecke in die Himmel der Landschaften, die in Verbindung mit den übrigen Farben des Bildes die räumliche Hintergrundwirkung des Himmels aufheben („Lofotenlandschaft“, 1937, WV 218; „Menschen in den Lofoten“, 1938, WV 226). Die fast immer vorkommenden Menschen werden in rhythmisch-dynamische Abstraktionen aufgelöst („Menschen in den Lofoten“, 1938, WV 240). Als abstrahierte Figuren werden sie zu expressiven Farbsigneten, wobei Landschaft und Figur als gleichwertige Elemente der chromatischen Bildgestaltung erscheinen.
Die meisten Werke aus der Frankreichzeit zeigen thematisch legendäre Szenen, in denen abstrahierte Figuren in ein überpersönliches, tragisches oder euphorisches Geschehen eingebunden erscheinen. Auch die Titel, wie „Eduards Tod I–IV“ (1943, WV 311-314) oder „Der Engel“ (1944, WV 323), reflektieren die Gleichzeitigkeit von Todesnähe und Lebensfülle. Die eigenartig gestalteten Kopfformen und die durch einen Strich als geschlossen markierten Augen erinnern an Totenschädel („Liegende“, 1943, WV 316). Im Gegensatz dazu steht die harmonisch-warme Farbgebung dieser Bilder, in denen Nay jetzt erstmals Gelb als dominante Farbe wählt und häufig mit hellem Rot kombiniert, wodurch er einen leuchtenden, lebensvollen Farbklang erreicht. Um die sonst perspektivisch erscheinenden Zwischenräume seiner intensiv farbigen und dichten Bildkompositionen flächig zu überbrücken, erfindet er ein Motiv abwechselnd sich wiederholender Schachbrettmuster; ein Gestaltungselement, das er auch später immer weiter verwenden wird. Nay schreibt in seinen „Regesten“: „Jene Bilder aus dem Krieg waren eigentlich etwas Einmaliges in meiner Kunst. Sie waren aus persönlichen Erlebnissen entstanden, an die ich mich klammerte, da ich alles andere nicht verstehen konnte, eine Konstellation, die es in meiner Kunst sonst nie gab.“[33]
Ab 1945, in Hofheim/Ts., entstehen die zahlreichen Werke der sogenannten „Hekate-Periode“. Im Spannungsfeld zwischen gerade noch erkennbarem figürlichem Motiv und fast schon gänzlich abstrakter Gestaltungsweise angesiedelt, markieren diese Werke eine neue Entwicklungsstufe in Nays Werk, in der sich beides spiegelt: die Tragik der jüngsten Vergangenheit und die aufkeimende Hoffnung jener ersten Jahre nach dem Krieg. Die Bezeichnung „Hekate-Bilder“ prägte Ernst Gosebruch (1872–1953) unter Bezugnahme auf Nays Bild „Tochter der Hekate I“ (1945, WV 337), von dem Nay auch eine zweite, kleinere Fassung anfertigte („Tochter der Hekate II“, 1946, WV 366). Bezeichnenderweise gibt es eine Tochter der Hekate – eine aus vorgriechischen Kulten stammende Zauberin, Mondgöttin und Göttin des Todes – in der griechischen Mythologie nicht. Diese ist eine Verfremdung bzw. Erfindung von Nay, so wie auch die Titel insgesamt aus dieser Werkperiode, in denen häufig antike oder biblische Themen anklingen, nicht abbildhaft oder gar illustrativ, sondern „als metaphorische Brücke“ zu seinen verschlüsselten Motiven zu verstehen sind.[34] Auffallend ist auch die veränderte Malweise Nays in dieser Zeit: Der Farbauftrag wird pastoser und bei vielen Bildern wählt Nay jetzt eine deutlich dunklere Palette. Rückblickend schreibt er selbst zu diesen Werken: „Da kamen wieder sehr starke formale Ideen zum Vorschein, die sich mit mythisch-magischen verbanden. Bilder, dick gemalt, die von Jahr zu Jahr, je älter sie werden – umso schöner werden. Wo ich ihnen begegne, bin ich davon entzückt. Aber ich bin ein Mensch der Gegenwart, den die Gegenwart auch in seinem Leben bestimmt.“[33]
Zeigten die „Hekate-Bilder“ noch Nays Verarbeitung der Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre, so wirken seine „Fugalen Bilder“ wie ein Neubeginn seiner Kunst. Durch Nays zweite Eheschließung 1949 verändert sich auch seine persönliche Lebenssituation. Im Sommer 1949 schafft er in Worpswede eine Serie von zehn Farblithographien (verlegt von Michael Hertz in Bremen). Diese Technik zwingt ihn, sein Formvokabular in seine Bestandteile zu zerlegen, was Nay zu einer formalen Verwandlung seiner Malerei anregt: Klar konturierte Schleifenformen, häufig begleitet von Punkten und Dreiecksformen, bestimmen jetzt die bildnerischen Motive und lösen die ins Mythische eingebundenen Formen der Hekate-Bilder ab. Die Titel dieser Bildreihe, in denen oft das Wort „Figurale“ enthalten ist („Figurale-Odaliske“, WV 477, „Figurale-Jota“, WV 500), deuten darauf hin, dass trotz fortschreitender Abstraktion der Mensch das Thema dieser Werke bleibt. Da sie stärker noch als die „Hekate-Bilder“ zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit oszillieren, blieben sie in der Wahrnehmung des Publikums weitgehend unverstanden.[35]
Ende 1951 zog Nay nach dem immer noch von Kriegsschäden gezeichneten Köln und bezieht dort eine Dachwohnung in der Wiethasestraße in Köln-Braunsfeld. Auf diesen Wechsel von einem ländlichen Domizil in die urbane, lebhafte Aufbruchssituation der rheinischen Großstadt reagiert er mit einer neuen, nun völlig gegenstandslosen Bildgestaltung. Auch unter dem Einfluss musikalischer Anregung (Köln war damals schon bekannt für seine bedeutenden Konzerte Neuer Musik) entstehen jetzt Bilder, in denen sich die klaren Konturen der „Fugalen Bilder“ in einem heftig bewegten Rhythmus auflösen, der sich in kleinteiligeren, stärker spontan und gestisch gesetzten Farbformen ausdrückt, die meist von schwarzen Linienstrukturen begleitet werden. Die Musikalität dieser Bilder spiegelt sich in ihren Titeln: „Vokalklang“ (1952, WV 604), „Silbermelodie“ (1952, WV 600) oder „Schwarze Rhythmen, Rot zu Grau“ (1952, WV 629). Rückblickend auf diese Zeit schrieb Nay 1962: „Besonders an der absoluten Tonsetzung und den oft ausgedehnten Negativformen der Musik Weberns fand ich ein direktes Interesse. Das war um 1950 herum. Später kamen die Kompositionen der seriellen und punktuellen Musik hinzu. Neben Dallapiccola und Nono beeindruckt mich Boulez am meisten. Dieser wegen seiner ausgiebigen Arbeit in der elektronischen Musik, deren Technik ich hier in Köln kennenlernte.“[36]
In seiner wohl bekanntesten, längsten und bis heute erfolgreichsten Schaffensperiode macht Nay die Rundform der Scheibe – in allen ihren Variationen – zum Hauptmotiv seiner Malerei, die er jetzt auch verstärkt theoretisch reflektiert. 1955 veröffentlicht er seine Schrift „Vom Gestaltwert der Farbe“, in der er die Grundlagen seines „ersten Systems“ der „punktuellen Setzung“ der Farbe darlegt. Wie Nay die „Scheibe“ als zentrales Gestaltungselement entdeckte, beschreibt er selbst so: „So fing ich mit sehr harmlosen neuen Versuchen an und stellte fest: Wenn ich mit einem Pinsel auf die Leinwand gehe, gibt es einen kleinen Klecks, vergrößere ich den, dann habe ich eine Scheibe. Diese Scheibe tut natürlich auf der Fläche schon eine ganze Menge. Setze ich andere Scheiben hinzu, so entsteht ein System von zumindest farbigen und quantitativen Größenverhältnissen, die man nun kombinieren und weiterhin zu größeren Bildkomplexen zusammenbauen könnte.“[37] Nachdem Nay die Scheiben anfangs noch mit graphischen Elementen kombiniert hatte, werden sie ab 1955 zum alleinigen Bildmotiv und es entstehen die aus heutiger Sicht „klassischen“ Werke dieser Periode. Ab 1957/58 verändert er die äußere Erscheinungsform seiner Scheiben, indem er sie zunächst in ihren Konturen offener und weicher gestaltet („Rondo“, 1958, WV 871), dann mehr aus der kreisenden Bewegung des Pinsels heraus entwickelt („Chorisch Grau“, 1960, WV 971) und schließlich mit teils heftiger Gestik „durchzustreichen“ beginnt („Ekstatisches Blau“, WV 990, 1961).[38] Dahinter stand, dass Nay spürte, dass er sein bis dahin stringent durchgehaltenes System der punktuellen Setzung der Farbe irgendwann auch wieder „eröffnen“ bzw. „überwinden“ musste, um nicht in einer „modernen Akademie der Malerei“[39] stecken zu bleiben.
Das spontane Durchkreuzen der Scheiben führt Nay um 1962/63 zur Entdeckung des Augenmotivs, das als Weiterentwicklung der „Scheibe“ nun für zwei Jahre das Bildgeschehen der sogenannten „Augenbilder“ bestimmt („Augen“, 1964, WV 1092). Dabei ist es angesichts der vom Künstler angestrebten „Eröffnung“ bezeichnend, dass mit diesem Motiv des „Auges“ erstmals seit Jahren wieder etwas sichtbar an den Menschen Gemahnendes auftaucht.[38] Dieses Ur-Thema, das Schauen und Angeschaut-werden vereint und in archetypischen Symbolen magische Kräfte und bannende Abwehr verheißt, aber auch Licht und spirituelle Bewusstheit symbolisiert, bedeutet für Nays völlig gegenstandslose Bildgestaltung eine gewaltige Herausforderung. Doch verzichtet er nicht auf die Assoziation der magischen Ausstrahlung dieser gegenständlichen Form, sondern bringt die Wirkung der großangelegten Augenformen seiner Bilder ins Gleichgewicht mit einer überaus bewegten, abstrakten Formsprache, die er in eine sich leidenschaftlich entfaltende Chromatik einbindet. Alle Register einer stark kontrastierenden Farbigkeit, wie auch die Betonung zart-heller und dunkelfarbiger Gegensätze bringt Nay in diesen Dialog ein und steigert damit die Vitalität und Freiheit seiner Bildgestaltung. Doch trotz der neugewonnenen und temperamentvoll eingesetzten malerischen Freiheit ist den Details und der Gesamtkonzeption dieser Bilder eine kontrollierte Ordnung eigen. In der Öffentlichkeit wurden die neuen und so ungewohnt expressiven Bilder Nays ambivalent wahrgenommen. Die drei „documenta-Bilder“ von 1964 (WV 1121, 1122 und WV 1123) wurden im sogenannten „documenta-Streit“ ausgesprochen kontrovers diskutiert und führten zu teils heftiger Polemik gegen Nay.[40]
Ab 1965 vollzieht Nay eine letzte Wendung in seinem Werk: Er gibt die „Monostruktur“ der „Scheibenform“ als dominierendes Gestaltungselement auf und entwickelt sein „zweites System“ der farbigen „Reihung“, für das nicht nur eine veränderte Malweise (der Farbauftrag wird flüssig und gleichmäßig), sondern vor allem ein wieder aufgeweitetes und formal sehr klares Formenrepertoire charakteristisch ist. So dominieren nun präzise umrissene Spindelformen („Spindel – Rot“, 1967, WV 1260), Ketten runder oder ovaler Scheiben („Rote Kette“, 1965, WV 1180) sowie Bogenformen („Mit dunkelgrauer Bogenform“, 1966, WV 1208) und Farbbänder, wobei sich häufig auch an Organisches erinnernde Assoziationen einstellen. In den letzten Bildern tauchen sogar „figürliche“, teils sogar an die Gestalt des Menschen erinnernde, Formationen auf, womit in diesen Bildern Nay zufolge eine jenseits des überkommenen Gegensatzes „abstrakt gegen real“[41] liegende, neue „bisher unbekannte Menschdarstellung“[42] bzw. ein „neues Anschauungsbild des Menschen“[43] ansichtig wird. Jenseits der Entgegensetzung „abstrakt“ oder „real“, findet Nay mit diesen Werken zu einer neuen, gleichsam dritten und von ihm selbst als „elementar“ bezeichneten Bildform, bei der das immer schon zentrale Thema seiner Kunst – der Mensch – auf gänzlich neue Weise ins Bild zurückkehrt. In seinem letzten noch von ihm selbst publizierten Aufsatz „Meine Farbe“ schreibt er 1967: „Es ist ein Leben wert, soweit vorzudringen, dass das reale Farbbild entstehen kann und die Farbe dabei so klingt, dass ohne besondere Absicht des Künstlers Menschliches anschaubar wird, Menschliches und Kreatürliches in neuer, unbekannter Formulierung.“[44]
Der schriftliche Nachlass liegt seit 1979 im Archiv für Bildende Kunst am Germanischen Nationalmuseum. Im September 2005 wurde die Ernst Wilhelm Nay Stiftung mit Sitz in Köln gegründet, die den künstlerischen Nachlass Nays betreut und verwaltet.
Die Preise, die für Werke Ernst Wilhelm Nays bei internationalen Auktionen erzielt werden, variieren häufig stark. Im Mai 2011 erzielte das großformatige Gemälde „Chromatische Scheiben“ (1960, 190 × 340 cm, WV 976) 750.000 Euro (mit Käuferaufgeld 915.000 Euro).
Im Mai 2014 wurde das Ölbild „Komposition A“ (1953, 100 × 120 cm, WV 650) von dem Kölner Auktionshaus Van Ham für 204.800 Euro (inkl. Käuferaufgeld) versteigert. Das kleinformatige Gemälde „Badende Frauen“ (1939, 47 × 70 cm, WV 277) fand im Jahr zuvor beim Online-Auktionshaus Auctionata einen neuen Besitzer.[45][46]
Im Dezember 2017 erzielte das Gemälde „Scheiben und Halbscheiben“ (1955, 120 × 161 cm, WV 745) bei Ketterer Kunst in München mit 2.312.500 Euro einen neuen Weltrekord. Das Auktionshaus Christie’s, New York versteigerte im Mai 2018 das 162 × 130 cm große Scheibenbild „Eisblau“ (1961, WV 999) aus der berühmten „Collection Peggy and David Rockefeller“, das einen Zuschlagpreis von 1.452.500 USD erzielte.[47] Ernst Wilhelm Nays abstraktes Gemälde „Doppelspindel-Rot“ von 1967 erzielte bei Ketterer Kunst 2021 1,8 Millionen €.[48]
Im Jahr 2002 gab die Deutsche Post anlässlich seines 100. Geburtstages eine Sonderbriefmarke heraus.
Personendaten | |
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NAME | Nay, Ernst Wilhelm |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Maler |
GEBURTSDATUM | 11. Juni 1902 |
GEBURTSORT | Berlin |
STERBEDATUM | 8. April 1968 |
STERBEORT | Köln |