Olga Neuwirth (* 4. August 1968 in Graz) ist eine österreichische Komponistin, Visual Artist und Autorin. Sie errang Bekanntheit vor allem durch ihre Opern und Musiktheaterwerke, die häufig ebenso aktuelle wie dezidiert politische Themen der Identität, Gewalt und Intoleranz behandeln.
Olga Neuwirth ist die Tochter von Griseldis Neuwirth und des Pianisten Harry Neuwirth. Sie ist die Nichte von Gösta Neuwirth[1] und Schwester der Bildhauerin Flora Neuwirth.[2] Ihre ursprünglichen Pläne, Trompete zu studieren, musste sie nach einem Unfall mit Kieferverletzung aufgeben.[3] Bereits als Gymnasiastin nahm Neuwirth an Kompositionsworkshops mit Hans Werner Henze und Gerd Kühr teil.[4] Im Alter von sechzehn Jahren begegnete sie der Schriftstellerin und Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, die beiden Künstlerinnen verbindet seitdem eine künstlerisch "fruchtbare Zusammenarbeit".[5][6] Ihrer ersten Auftragskomposition gab die damals siebzehnjährige Komponistin den Namen Die gelbe Kuh tanzt Ragtime.[7] Das Werk wurde für die Eröffnung des Festivals "steirischer herbst" 1985 komponiert.[8]
Olga Neuwirth studierte zunächst ab 1986 in San Francisco Komposition bei Elinor Armer am Conservatory of Music sowie Malerei und Film am Art College. In Wien setzte Olga Neuwirth ihre Studien an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst sowie am Elektroakustischen Institut fort. Von 1993 bis 1994 studierte Neuwirth bei Tristan Murail in Paris.[1] Wesentliche Anregungen erhielt sie durch die Begegnungen mit Adriana Hölszky (Nicht beirren lassen! Weitermachen!)[9] und Luigi Nono. Das Studium schloss sie mit einer Magisterarbeit „Über den Einsatz von Filmmusik in ,L'amour à mort‘ von Alain Resnais“ ab.[10]
1991 wurde Olga Neuwirth mit Mini-Opern nach Texten von Elfriede Jelinek international bekannt.
Olga Neuwirths originäre Kompositionsweise ist geprägt von Heranziehung vielfältiger Kompositionstechniken und hybrider Klangmaterialien bei stetiger Hinterfragung von Normativen in künstlerischen und sozial-politischen Fragen.[11] Neuwirth spricht von einer „Art-in-Between“.[12] Stefan Drees bemerkt dazu: „Das Katastrophische, das Umkippen in ungewohnte Regionen mit all seinen Konsequenzen ist daher eine Grundgestimmtheit ihres Schaffens, die sich wie ein roter Faden durch ihre Werke windet.“[11] Meist der sogenannten „zeitgenössischen klassischen Musik“ zugeordnet, streben ihre Werke seit den späten 1980er-Jahren eine Überwindung der vom Musikbetrieb gesetzten Genre-Beschränkungen an. Aus einer Vielzahl von „[...] Inspirationsquellen […] aus Kunst, Architektur, Literatur und Musik, Geistesgeschichte, Psychologie, Naturwissenschaft und Alltagswirklichkeit [...]“[13] kreiert Neuwirth eine mehrdimensionale wie eigenständige Kunstform. Beispielsweise verdichten sich in Le Encantadas o le avventure nel mare delle meraviglie (2014) Neuwirths Beschäftigung mit Herman Melvilles Novelle Le Encantadas (1894) sowie Impulse aus der Klangwelt von Luigi Nono – hier insbesondere aus seinem einflussreichen Werk Prometeo (1984) – zu einem „[...] fiktionale[n] Abenteuerroman durch vielfältige Raumklangwirkungen hindurch“.[14] Der Ausgangspunkt der Komposition ist dabei die akustische Vermessung (Neuwirth: „akustische Denkmalpflege“[14]) der Chiesa San Lorenzo in Venedig.
Olga Neuwirth schuf mehrere abendfüllende Musiktheaterwerke: Die Video-Oper Lost Highway (2003) nach David Lynch, Bählamms Fest (1993/1997) nach Leonora Carrington, The Outcast nach Herman Melville, American Lulu nach Alban Berg. Neuwirths Oper Orlando, basierend auf dem Roman von Virginia Woolf, ist die erste von einer Frau komponierte abendfüllende Oper, die von der Wiener Staatsoper in Auftrag gegeben wurde. Die Uraufführung fand am 8. Dezember 2019 statt.[15][16] Anschließend wurde diese bei der internationalen Kritikerumfrage des Fachzeitschrift Opernwelt zur Uraufführung des Jahres gewählt.
Interessiert an einem breitem Spektrum von Anregungen und Ausdrucksmöglichkeiten, überschritt Neuwirth bereits in den 1990er Jahren die Genregrenzen zwischen Schauspiel, Oper, Hörspiel, Performance und Video. Dies spiegelt sich in Titeln ihrer Werke, bspw. in The Outcast – a musicstallation-theater[17] wider. Neuwirth setzte es sich häufig zum Ziel, etablierte Präsentationsformen von Konzerten aufzubrechen, um so zu einer „fluid[en] Form“[18] zu gelangen. So wurden für die Umbaupausen bei ihren beiden "Porträt-Konzerten" im Rahmen der Salzburger Festspiele 1998 z. B. aufziehbare Kinderspielzeug-Instrumente auf einer verstärkten Metallplatte mittels mehrerer, ein immersives Hörerlebnis erzeugender Lautsprecher in den Zuhörerraum übertragen und live auf eine Leinwand projiziert. Zusätzlich dazu wurden Elfriede Jelineks „Aufforderungs-Texte“ zu Verhaltensweisen des Publikums eingeblendet. Eine Erweiterung der künstlerischen Wirkkraft aus dem Konzertsaal in den öffentlichen Raum hinein in Neuwirths Werken ist explizit zu finden u. a. in Talking Houses (1996), einer Beschallung aller Geschäfte des Hauptplatzes der Stadt Deutschlandsberg (zusammen mit Hans Hoffer), oder der Klanginstallation … le temps désechanté … ou dialogue aux enfers (2005) am Place Igor Stravinsky in Paris. Im Rahmen dieser 2005 vom IRCAM Paris beauftragten Arbeit interagierten elektroakustische Klänge mittels einer Motion-Capture-Kamera mit den sich auf dem Platz bewegenden Menschenströmen. Die wachsende Anzahl der Passanten setzte dabei eine musikalische Transformation in Gang. Die Pariser Polizei erzwang eine Beendigung der Klanginstallation.
Neuwirths Beschäftigung mit Schnittmengen von Musik und bildender Kunst gipfelte 2007 in der Teilnahme an der documenta 12 mit einer Klang/Film-Installation[19]. Zusätzlich erweiterte sie das Feld ihrer Tätigkeiten immer wieder mit dem Verfassen von Texten, Filmdrehbüchern sowie dem Realisieren von Kurzfilmen, Performances und Fotoserien.
Neuwirth zeichnet ebenfalls für diverse Filmmusiken verantwortlich, so die Musik zu den Stummfilmen Symphonie diagonale aus dem Jahr 1924, Maudite soit la Guerre (1914), Stadt ohne Juden (1924) sowie die Tonspuren zu Filmen von Kurt Mayer und Josef Dabernig. Die Komponistin schrieb außerdem Musik zum Spielfilm Das Vaterspiel von Michael Glawogger, der im Jahr 2009 im Rahmen der Berlinale aufgeführt wurde, sowie für Ich seh Ich seh von Veronika Franz und Severin Fiala, der 2014 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig Premiere feierte. Sie arbeitete ebenfalls mit der französischen Installations-, Video- und Konzeptkünstlerin Dominique Gonzales-Foerster an der Raumkomposition ...ce qui arrive... zusammen.[20]
Neuwirth hat stets den Alltag der innerhalb der Gegenwartskunst eher marginalisierten Berufsgruppe der Komponisten und besonders der Komponistinnen reflektiert und dies in vielen Texten klar vermittelt. Sie äußerte sich zudem immer wieder politisch (wie z. B. in ihrer Rede vor der Staatsoper Wien bei der Großdemonstration am 19. September 2000 mit dem Titel „Ich lasse mich nicht wegjodeln)“[21], um Wachsamkeit gegenüber gesellschaftlichen und politischen Veränderungen zu fordern.
Olga Neuwirth erhielt Aufträge von internationalen Institutionen wie der Carnegie Hall, dem Lucerne Festival, den Salzburger Festspielen, der Elbphilharmonie Hamburg, der Wiener Staatsoper und vielen anderen. Als composer-in-residence war sie 1999 bei den Salzburger Festspielen tätig, 2000 beim Koninklijk Filharmonisch Orkest van Vlaanderen in Antwerpen, 2002 sowie 2016 beim Lucerne Festival, dem Festival d’Automne 2011, 2019 in der Elbphilharmonie Hamburg und dem Wiener Konzerthaus. Ihre Werke wurden u. a. von den Dirigenten Pierre Boulez, Peter Eötvös, Daniel Harding, Matthias Pintscher, Valerij Gergjev, Susanna Mälkki, François-Xavier Roth und Alan Gilbert zur Aufführung gebracht. Führende Orchester und Ensembles nahmen Olga Neuwirths Kompositionen in ihre Programme auf, darunter Wiener Philharmoniker, Berliner Philharmoniker, New York Philharmonic Orchestra, Scottish Symphony Orchestra, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin, BBC Symphony Orchestra, London Symphony Orchestra, Orchestre Philharmonique de Radio France, NDR Sinfonieorchester, Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, ORF Radio Sinfonieorchester, Ensemble Intercontemporain, Ensemble Modern, ICE Ensemble, Talea Ensemble, Klangforum Wien, London Sinfonietta, Ensemble musikFabrik, Phace Ensemble sowie das Arditti Quartet. Zahlreiche Solisten wie Hakan Hardenberger, Antoine Tamestit, Thomas Larcher, Jochen Kowalski, Robyn Schulkowsky, Marino Formenti, Claire Chase und Andrew Watts wirkten bei Aufführungen von Olga Neuwirths Werken mit.
Neuwirth arbeitet häufig darüber hinaus mit Künstlern anderer Kunstgattungen zusammen, so mit dem Architekten Peter Zumthor (Bregenz 2017)[22], den New Yorker Architekten von Asymptote Architecture (ZKM 2017) sowie dem Akustiker Markus Noisternig. Auch zeichnet die Komponistin neben dem Videokünstler Tal Rosner für die interaktive Installation Disenchanted Island[23] im Centre Pompidou Paris (2016) verantwortlich.
Olga Neuwirth ist Mitglied der Bayerischen Akademie der schönen Künste, der Akademie der Künste (Berlin) sowie der Royal Swedish Academy of Music.
Olga Neuwirth hat seit 2021 eine Professur an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien inne.[24]
Die Kompositionen von Olga Neuwirth sind überwiegend bei Boosey&Hawkes[33] und Ricordi[34] verlegt.
Wilhelm Killmayer (1990) | Ensemble „Assoziation für moderne Musik“ (1991) | Wolfgang von Schweinitz (1992) | Jan Müller-Wieland (1993) | Babette Koblenz (1994) | Caspar Johannes Walter (1995) | Wolfram Schurig (1996) | Helmut Oehring (1997) | String Thing (1998) | Olga Neuwirth (1999) | Matthias Pintscher (2000) | Thomas Adès (2001) | Jörg Widmann (2002) | Rebecca Saunders (2003) | Jörn Arnecke (2004) | Lera Auerbach (2005) | Michel van der Aa (2006) | Dai Fujikura (2007) | Márton Illés (2008) | Johannes Maria Staud (2009) | Sascha Lino Lemke (2010) | Markus Lehmann-Horn (2011) | Li Bo (2012) | Maximilian Schnaus (2013) | Bernd Richard Deutsch (2014) | David Philip Hefti (2015) | Anna Clyne (2016) | Samy Moussa (2017) | Clara Iannotta (2018) | Aigerim Seilova (2019) | Stefan Johannes Hanke (2020)
Benjamin Britten (1974) | Olivier Messiaen (1975) | Mstislaw Rostropowitsch (1976) | Herbert von Karajan (1977) | Rudolf Serkin (1978) | Pierre Boulez (1979) | Dietrich Fischer-Dieskau (1980) | Elliott Carter (1981) | Gidon Kremer (1982) | Witold Lutosławski (1983) | Yehudi Menuhin (1984) | Andrés Segovia (1985) | Karlheinz Stockhausen (1986) | Leonard Bernstein (1987) | Peter Schreier (1988) | Luciano Berio (1989) | Hans Werner Henze (1990) | Heinz Holliger (1991) | H. C. Robbins Landon (1992) | György Ligeti (1993) | Claudio Abbado (1994) | Sir Harrison Birtwistle (1995) | Maurizio Pollini (1996) | Helmut Lachenmann (1997) | György Kurtág (1998) | Arditti Quartet (1999) | Mauricio Kagel (2000) | Reinhold Brinkmann (2001) | Nikolaus Harnoncourt (2002) | Wolfgang Rihm (2003) | Alfred Brendel (2004) | Henri Dutilleux (2005) | Daniel Barenboim (2006) | Brian Ferneyhough (2007) | Anne-Sophie Mutter (2008) | Klaus Huber (2009) | Michael Gielen (2010) | Aribert Reimann (2011) | Friedrich Cerha (2012) | Mariss Jansons (2013) | Peter Gülke (2014) | Christoph Eschenbach (2015) | Per Nørgård (2016) | Pierre-Laurent Aimard (2017) | Beat Furrer (2018) | Rebecca Saunders (2019) | Tabea Zimmermann (2020) | Georges Aperghis (2021) | Olga Neuwirth (2022)
Michael Jarrell, George Lopez (1990) | Herbert Willi, Ensemble Avantgarde (1991) | Beat Furrer, Benedict Mason (1992) | Silvia Fómina, Param Vir (1993) | Hans-Jürgen von Bose, Marc-André Dalbavie, Luca Francesconi (1994) | Gerd Kühr, Philippe Hurel (1995) | Volker Nickel, Rebecca Saunders (1996) | Moritz Eggert, Mauricio Sotelo (1997) | Antoine Bonnet, Claus-Steffen Mahnkopf (1998) | Thomas Adès, Olga Neuwirth (1999) | Hanspeter Kyburz, Augusta Read Thomas, Andrea Lorenzo Scartazzini (2000) | Isabel Mundry, André Werner, José María Sánchez-Verdú (2001) | Marc André, Jan Müller-Wieland, Charlotte Seither (2002) | Chaya Czernowin, Christian Jost, Jörg Widmann (2003) | Fabien Lévy, Johannes Maria Staud, Enno Poppe (2004) | Sebastian Claren, Philipp Maintz, Michel van der Aa (2005) | Jens Joneleit, Alexander Muno, Athanasia Tzanou (2006) | Vykintas Baltakas, Markus Hechtle (2007) | Dieter Ammann, Márton Illés, Wolfram Schurig (2008) | Francesco Filidei, Miroslav Srnka, Lin Yang (2009) | Pierluigi Billone, Arnulf Herrmann, Oliver Schneller (2010) | Steven Daverson, Hèctor Parra, Hans Thomalla (2011) | Luke Bedford, Zeynep Gedizlioğlu, Ulrich Alexander Kreppein (2012) | David Philip Hefti, Samy Moussa, Marko Nikodijević (2013) | Simone Movio, Brigitta Muntendorf, Luis Codera Puzo (2014) | Birke Bertelsmeier, Mark Barden, Christian Mason (2015) | Milica Djordjević, David Hudry, Gordon Kampe (2016) | Michael Pelzel, Simon Steen-Andersen, Lisa Streich (2017) | Clara Iannotta, Timothy McCormack, Oriol Saladrigues (2018) | Annesley Black, Ann Cleare, Mithatcan Öcal (2019) | Catherine Lamb, Francesca Verunelli, Samir Amarouch (2020)
Hans Peter Haller (1989) | Pierre Boulez (1990) | Steffen Schleiermacher (1991) | György Ligeti (1992) | André Richard (1994) | Robyn Schulkowsky (1995) | Wolfgang Rihm (1996) | Mario Davidovsky (1997) | Hans-Jürgen von Bose (1998) | Gottfried Michael Koenig (1999) | Péter Eötvös (2000) | Kaija Saariaho (2001) | Christoph Poppen (2002) | Aleksandra Gryka und Mateusz Bien (2004) | Márton Illés (2005) | Mark Andre (2006) | Jörg Widmann (2007) | Minas Borboudakis und Konstantia Gourzi (2008) | Enno Poppe (2009) | Wilhelm Killmayer (2010) | Adriana Hölszky (2011) | Josef Anton Riedl, Nico Sauer und Luis Codera Puzo (2013) | Isabel Mundry (2014) | Erkki-Sven Tüür (2015) | Georges Aperghis (2016) | Anna Korsun (2017) | Mikis Theodorakis (2018) | Olga Neuwirth (2019) | Peter Michael Hamel (2020)
Personendaten | |
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NAME | Neuwirth, Olga |
KURZBESCHREIBUNG | österreichische Komponistin |
GEBURTSDATUM | 4. August 1968 |
GEBURTSORT | Graz |